
Die verbreitete Gleichsetzung von Charisma mit physischer Attraktivität beruht auf einer Fehlannahme, die sowohl psychologisch als auch neurowissenschaftlich nicht haltbar ist. In meinem Essay „Schön, aber stumm – Führung funktioniert nicht im Spiegel“ differenziere ich beide Konzepte auf der Grundlage empirischer Studien und neurokognitiver Modelle. Während Attraktivität primär auf biologischen Merkmalen beruht und unbewusst über das Belohnungssystem des Gehirns wirkt (z. B. ventrales Striatum, Nucleus accumbens), ist Charisma ein sozial-kognitives Phänomen, das mit Empathie, emotionaler Intelligenz und kommunikativer Kompetenz verknüpft ist. Neurologisch sind hier insbesondere der mediale präfrontale Kortex und das temporoparietale Übergangsareal beteiligt. Anders als Attraktivität kann Charisma durch Training gezielt gefördert werden. Studien zeigen, dass charismatisches Verhalten – insbesondere rhetorische Mittel, emotionale Resonanz und authentische Kommunikation – einen signifikanten Einfluss auf Führungserfolg hat¹. Dagegen ist der Einfluss äußerer Attraktivität auf nachhaltige Führung begrenzt und spielt vor allem in kurzfristigen sozialen Situationen eine Rolle². Die klare Unterscheidung beider Konzepte ist für die Führungskräfteentwicklung sowie für die Kommunikations- und Sozialpsychologie von zentraler Bedeutung.
- Vgl. John Antonakis, Marika Fenley und Sue Liechti: Can charisma be taught? Tests of two interventions, in: Academy of Management Learning & Education 10 (2011), H. 3, S. 374–396.
- Vgl. Judith H. Langlois u. a.: Maxims or myths of beauty? A meta-analytic and theoretical review, in: Psychological Bulletin 126 (2000), H. 3, S. 390–423.